Seit mehr als 20 Jahren leitet sie den Bereich Personal beim Bankhaus Metzler, sie hat unzählige Bewerbungsgespräche geführt und bringt daraus einen riesigen Erfahrungsschatz mit. Und obwohl sie sich gerade im Sabbatical befindet, hat sich Birgit Kiessler die Zeit genommen, in meinem Podcast „bewerbungsstark“ zu Gast zu sein, meine Fragen (und die meiner Coachees) rund um das Thema Führungskräfte im Bewerbungsprozess zu beantworten und einen spannenden Blick hinter die Kulissen „der anderen Seite“ zu ermöglichen.
Wie hat sich der Bewerbungsprozess durch Corona verändert?
Bereits vor der Pandemie war der Bewerbungsprozess im Wandel. Die Zeiten, in denen wir aus einer großen Zahl von Bewerbern wählen konnten, haben sich seit der Finanzkrise geändert – hin zu einer Situation, in der es die Bewerber sind, die aus einer Vielzahl von Angeboten wählen können. Für uns bedeutet das, dass wir viel gezielter auf Kandidaten zugehen müssen und uns eher in der Rolle des Werbenden wiederfinden.
Das Bewerbungsgespräch per Video war hingegen vor Corona bei uns – im Gegensatz zu einigen anderen Branchen – nicht üblich. Mittlerweile ist das anderes, nach der ersten Sichtung der Unterlagen findet der gesamte erste Interviewprozess über Video statt. Und wir haben die Erfahrung gemacht, dass entgegen vieler Befürchtungen von der Wirkung des Kandidaten gar nicht so viel verloren geht. Auch durch Mimik und Gestik im Video kann man eine ganze Menge über die Kandidaten erfahren und Nähe aufbauen.
Haben wir das Tool vorher unterschätzt? Oder haben wir alle dazugelernt?
Beides. Wir haben das Tool unterschätzt – als soziale Wesen finden wir es nun mal schöner, zusammenzusitzen und Tee zu trinken. Und klar, wir haben jetzt dazugelernt – auch technisch und in der Vorbereitung auf ein solches Interview. Trotzdem findet bei uns nach einer positiv gelaufenen Videorunde immer ein Präsenztermin statt. Ich finde es wichtig, dass die Kandidaten auch ein Gespür bekommen, ob ihnen die Räumlichkeiten und der Umgang miteinander behagen– und das geht tatsächlich nur direkt vor Ort.
Worauf achtest Du, wenn Du Führungskräfte auswählst?
Führungskräfte sollen andere dazu anleiten, Hochleistungen zu erbringen. Wenn von mir als Mensch eine Hochleistung erwartet wird, kann das niemand erzwingen – wenn ich sie nicht erbringen will, dann tue ich das auch nicht. Eine Führungskraft muss also so agieren, dass die Menschen, die sie führt, freiwillig dazu bereit sind, ihr etwas zu geben. Und das tun sie, wenn die Führungskraft in der Lage ist, eine sehr gute, vertrauensvolle Beziehungsebene herzustellen und Nähe zu produzieren. Darauf achte ich bei den Kandidaten, frage dazu nach guten und weniger guten Erlebnissen im Führungsumfeld und danach, was sie daraus für die Zukunft gelernt haben. Aus den Antworten muss ich entnehmen können, dass dem Kandidaten Menschen wirklich wichtig sind – denn eine Führungskraft muss Menschen lieben.
Im Moment geistert der Begriff der Authentizität sehr durch die Medien. Aber wie authentisch sollte man im Vorstellungsgespräch sein? Wenn zum Beispiel eine Führungskraft ihren Job verloren hat und dadurch auch an sich selbst zweifelt – sollte sie das erwähnen?
Auf jeden Fall! Wenn jemand als Führungskraft seinen Job verloren hat und sich nun neu bewirbt, finde ich es wohltuend und aufrichtig, wenn derjenige sagt, dass das erst einmal schwierig für ihn war, dass er Selbstzweifel hatte, und dann erzählt, wie er die Situation gemeistert hat. Ein Jobverlust ist ja eine der großen Lebenskrisen, die Menschen durchmachen können. Wenn mir dann jemand erzählt oder durchblicken lässt, dass ihm das egal war, ist das schon sehr unglaubwürdig.
Was ist ein guter Gesprächseinstieg beim Job-Interview?
Mein Lieblingseinstieg ist, jemanden zu überraschen – weil das auch zu Authentizität führt. Typischerweise geht es ja los mit einem Satz wie „So, wir reden jetzt mal über Ihren Lebenslauf …“, aber ich starte gerne mit: „Ihren Lebenslauf haben wir ja alle gelesen – ich würde gerne erfahren, was ich darüber hinaus über Sie als Person wissen sollte“. Dann sind die meisten erstmal irritiert. Manche können sich sehr schnell darauf einlassen und antworten, andere können damit nichts anfangen. Ihnen kann man gut helfen, indem man fragt, was eine nahe Person antworten würde. Dann kommen wir ins Gespräch, es kann sich eine Nähe entwickeln und ich kann eine Idee davon bekommen, wer dieser Mensch ist und ob er ins Team und ins Unternehmen passt.
Wie geht das Gespräch dann weiter?
Ich stelle Fragen zur Persönlichkeit und Motivation. Zum Beispiel: „Welche Teile Ihrer Arbeit vermitteln Ihnen ein besonderes Gefühl von Zufriedenheit?“ oder „Wann gehen Sie abends mit dem guten Gefühl, etwas geschafft zu haben, nach Hause?“ Die Antworten geben Aufschluss darüber, wo diese Person glücklich ist, welche Dinge sie gerne tut, worin sie gut ist. Das kann ich dann wiederum mit den Anforderungen der Position abgleichen – denn die Anteile dessen, was sie nicht so gerne tut, sollten darin entsprechend klein sein.
Die Frage „Welche persönlichen und beruflichen Erfahrungen haben für Sie zu einer Veränderung geführt?“ dient mir dazu, herauszufinden, ob der Kandidat gut über sich selbst reflektieren kann – gerade bei Führungskräften ist das sehr wichtig. Und über eine Frage wie „Was haben Sie bisher in Ihrem Berufsleben als die größte Auszeichnung erlebt?“ kann Nähe im Gespräch entstehen. Denn meist ist es gar nicht, wie viele annehmen, die Beförderung oder ein hohes Gehalt, sondern ein wirklich von Herzen kommendes Lob oder auch die Übertragung eines wichtigen Projekts.
Wir bekommen übrigens zu unseren Interviews in der Regel sehr positives Feedback. Die Kandidaten sagen, dass sie sich bei uns als Menschen angenommen fühlen und nicht wie quasi austauschbare Bewerber. Das macht uns stolz.
Wie ist Deine Antwort auf die klassische Frage nach Deinen drei größten Stärken?
Mal abgesehen davon, dass ich diese Frage nie stellen würde, weil dann in aller Regel auswendig gelernte Dinge kommen: Ich bin eine sehr gute Netzwerkerin, kann ein ordentliches Maß an Beharrlichkeit an den Tag legen kann und auch mutig agieren.
Bewerbern würde ich zu der Frage zum einen raten, dass die von ihnen genannten Stärken zur eigenen Vita passen und belegbar sein müssen. Zum anderen sollten sie im Vorfeld überlegen, welche Stärken es genau für den ausgeschriebenen Job braucht, und ganz ehrlich prüfen, ob sie diese Stärken tatsächlich mitbringen. Denn nur dann sollten sie sich bewerben.
Hast Du besondere Tipps für Führungskräfte in punkto Bewerbungsgespräch?
Tipp 1: Bevor Du die erste Bewerbung schreibst, setz Dich vorher in aller Ruhe hin und überlege: Wo komme ich her? Was habe ich aus dieser Vergangenheit für mich gelernt? Wo stehe ich im Moment? Wo soll es hingehen? Was passt jetzt im Moment und in den nächsten Jahren in meine Lebenssituation? Diese Vorbereitung ist der allerwichtigste Schritt.
Tipp 2: Überlege Dir für das Interview gute Fragen, in denen Du zeigst, dass Dich das Unternehmen und seine Zukunft interessiert, und mit denen Du herausfindest, ob das Unternehmen zu Dir passt. Das können zum Beispiel Fragen nach der Unternehmenskultur sein, nach den kommenden Herausforderungen oder auch dem Umgang mit Fehlern. Schließlich geht es darum, zu klären, auf welchem Weg Du bist, auf welchem Weg das Unternehmen ist und ob Ihr den Weg gemeinsam gehen könnt.
Was ist Dein Rat an Führungskräfte, die ihren Job verloren haben, nun in wilden Aktionismus verfallen, sofort ihr Netzwerk abtelefonieren und meinen, keine Zeit für Selbstreflektion zu haben?
Ich kann den Impuls gut verstehen, aber man muss bedenken: Jeden, den ich aus meinem Netzwerkt schon angerufen habe, kann ich in der nächsten Zeit nicht noch einmal anrufen, wenn ich einen Korb bekommen habe. Es ist also extrem wichtig zu überlegen, wen man zu welchem Zeitpunkt anruft. Zeit und Ort MÜSSEN stimmen, denn oft gibt es nur eine einzige Chance. Da ist die Arbeit, die Du mit Deinem Coaching machst, sehr wichtig – und dient sicher oft dazu, hektische Aktionen zugunsten von fundierten Überlegungen zu bremsen.
Das komplette Interview könnt Ihr hier nachhören oder anschauen.